«Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,

                             Die Sonne könnt’ es nicht erblicken.

                             Läg’ nicht in uns Gottes eigne Kraft,

                             Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?»

                                                 Zahme Xenien III, Goethe

 

 

 

 

Resonanz

„Denn ein dem sehenden Gegenstand verwandt und ähnlich gemachtes Auge muß man zum Sehen mitbringen. Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; so kann auch eine Seele das Schöne nicht sehen, wenn sie nicht schön ist. Darum werde jeder zuerst gottähnlich und schön, wenn er das Gute und Schöne sehen will.“

                                     Aus: PLOTINs[1] Enneaden, erste E., Buch 6, Kap.9  


        Muße und Müßiggang[2]  – Es ist eine indianerhafte, dem India-nerblute eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten und ihre atemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der neuen Welt – beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, - man lebt wie einer, der  fortwährend etwas «versäumen könnte». «Lieber irgend etwas tun als nichts» - auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Gebrauch den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast der Arbeitenden zugrunde gehen: so geht auch das Gefühl für die Form selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zugrunde. Der Beweis dafür liegt in der jetzt über geforderten plumpen Deutlichkeit, in allen den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und Fürsten – man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonien, für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles otium[3].“

        Denn das Leben auf der Jagd  nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, in beständigem Sich-verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und so gibt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur «gehen lassen», sondern lang und breit  sich hinstrecken. Gemäß diesem Hange schreibt man jetzt seine Briefe, deren Stil und Geist immer das eigentliche «Zeichen der Zeit» sein werden.

Gibt es noch ein Vergnügen  an Gesellschaft und an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müdegearbeitete Sklaven  sich zurechtmachen. O über diese Genügsamkeit der «Freude»  bei unseren Gebildeten und Ungebil-deten! O über diese zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen  auf ihre Seite: der Hang zur Freude  nennt sich bereits «Bedürfnis zur Erholung» und fängt an sich vor sich selbst zu schämen. 

        «Man ist es seiner Gesundheit schuldig» - so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja, es könnte bald soweit kommen, daß man einem Hange zur vita contemplativa[4]  (das heißt zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden)  nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe. – Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn zur Arbeit zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, daß er etwas Verächtliches tue: - das «Tun»  selber  war etwas Verächtliches. «Die Vornehmheit und die Ehre sind allein  bei otium und bellum»: so klang die Stimme des antiken Vorurteils!“

 


Inhaltsverzeichnis

                                                                                                                                Seite

  I.

 

Vorwort

Gegen den Strom – Humanismus gegen die Zeiten – Jacob Burckhardt

 

   9

 II.

 

Briefe (und nur angedeutete Werke)

Jacob Burckhardt unterwegs – Auf der Suche – Berlin - Paris – Holland – England – Kultur unter dem Rad der Leere – Im Mahlstrom fortschreitender Maschinisierung:            

Stationen

 

 

1.

1. an „Dörli   aus Berlin - 22. März 1840

  33

 

 

2. an die Schwester Luise  aus  Berlin  16.7.1840

  40

 

 

3. an die Schwester Luise   aus Berlin

                                                 15. August 1840

 

  42

 

 

4. über eine Reise nach Leipzig, Wittenberg,

    Fulda, Frankfurt  nach Köln – 5. April 1841

 

  45

 

2.

Kinkel  (Lexikonartikel)

  57

 

 

Briefe aus Paris      vom 20. Aug 1843

  62

 

 

Räderschnurrendes Elend u. Bismarck

  75

 

3.

Im Nebenamt Pädagogikum

         Die Zeit der Reformation und Gegen-

            reformation – Niederlande Richelieu –      Rudolf II. – Friedrich  der Große ,

 

 

 

 78

 

5.

Holland

 88

 

6.

Reise nach London  1879 

 89

 

 

 

 

 

7.

BILDUNG und POLITIK

Das große Unheil unserer Zeit

 

 

 

 

1. Rousseau – Geistige Vorbereitung der

                        Giullotine

102

 

 

2. Schule als Kujonade                                               

104

 

 

„ER RÜHRTE AN DEN SCHLAF DER WELT“

106

 

 

3. Weltgeschichtliche Betrachtungen  -    

107

 

 

 

 

III.

 

1

Griechische Kulturgeschichte   Einführung in die Anlehnung an Werner Kaegi

 

  

 

 

1. Zur Vorgeschichte des Werks    

114

 

 

2. Der Aufbau des Werke  

116

 

 

3. Freundschaft mit Nietzsche

117

 

 

4.  Die Polis und zwei Einzelne

         1. Pythagoras

         2. Sokrates

     Hellenismus

     Die griechische Sprache

125

126

128

130

134

 

 

5. Der hellenistische Mensch

133

 

 

          Der Agon

 

Auszüge:

136

 

2.

Die Polis                              Bd. I    S.  60- 87

 Genesis, Königtum - Die Polis i. ihrer histor. Entw.  

143

179

 

3.

Musik                                        II  .121 – 130

185

 

4.

DER BRUCH MIT DEM MYTHUS - „Die sie-ben Weisen“ - Staatsphilosophen, Pythagoras,

Pythagoreer, die Sophisten      II S. 360-379

 b) Beredtsamkeit                     II   S.380-394

 

 

193

216

 

5.

Freie Persönlichkeit   13s       III      339-352

231    

 

 

Die wissenschaftliche Forschung III      379-381

Der koloniale und agonale Mensch IV   S.  116- 249

256

259

 

6

Der Mensch des V. Jahrhunderts  IV 244-                                                   

 

281

III.

7

 Der hellenistische Mensch     IV    554 - 604

288

 

.

 (lange Fußnote – Charaktäre 291-295] 

Neue Förderung der Wissenschaft durch die Fürsten. – Alexandrien (576). — Die ersten Ptolemäer. — Das Museion. — Die Fragen nach dessen Organisation (577). - Die Bibliothek (578). - Tendenz der alexandrinischen Schule. - Die Polygraphie (579). – Geschichtsforschung. - Grammatiker und Philologen. - Rhetorische Studien (580). - Philosophie. - Naturwissenschaft. – Medizin. – Mathe-matik (582). - Mechanik. – Musikal. Theorie. – Astrono-mie. - Förderung d. Wissens außerhalb Ägyptens. – Pergamon (583). - Seleukidenstaat. - Syrakus. - Makedonien (584).

Die Poesie in Alexandrien. - Theokrit (585). - Das Drama. – Andere Dichter. - Kallimachos (586). – Lykophron. - Das Epigramm (587). - Fehlen des Romans (588). - Epistolographie (589). Außeralexandrinische Poesie. — Bedeutung des Theaters. — Art der Aufführungen. - Die dionysischen Techniten (589). - Fortleben des Euripides und Menander. - Der Pantomimus. - Der Farceur (593)

Die Philosophie. - Fortdauer des Interesses für sie (593). – Eklektische Systeme. - Die Stoa. - Ihre Bedeutung als Denkweise (594)·  Der Epikureismus (596). - Der Skeptizismus. - Haß der Schulen (598).

Stellung der Philosophen im Leben (598). - Verkehr mit Diadochen (599). - Betätigung im öffentlichen Leben. - Die Stoiker (601). - Philosophen bei Tyrannenvertreibun-gen (602).- Die athenische Philosophengesandtschaft. - Epikureerverfolgungen. - Spätere Philosophen und Rhe-toren als Demagogen (603). — Das Interesse der Römer an der Philosophie. - Schluß (604).

Frauen 300    Knabenliebe 309, Naturgefühl 310

Alexandria, Museon 322, alexandrinische Schule 325                         

 

314

 

8.

Aus dem Nachwort Rudolf Marx’

355

 

1  b Inhaltsverzeichnisse

 

9.

Fünf Anhänge:

 I.   Nietzsche, aus „Die Geburt der Tragödie“

 

397

 

 

II.  Goethe, aus „Der Sammler und die Seinen“

407

 

 

III. Wölfflin, aus: Italien und wir

                – Ganzheit und seine Teile

418

 

 

IV. Nietzsche II – Religion, Basis und Praxis

422

 

 

V. Nietzsche, Burckhardt und die Philister

´

1. Von der geistigen Unentbehrlichkeit des

      Studiums der alten Geschichte

425

 

442

 

 

4. Warum der heutige »Gebildete« das Altertum

      nicht mehr verstehen kann

Hohe Wachstumsraten für Blech und Beton

 

444

445

 

 

Literaturangaben:

Das griechische Alphabet

447

448

 

                                    Skizzen

 aus Burckhardt Hand und wenige „fremde“ S. und Fotos

 

 Ölbild, Aufgeklebte Notiz auf der Rückseite von der Hand Dr. med.

     Rudolf Oeri-Sarasins: „Jacob Christoph Burckhardt, geb. 25. Mai 1818 –

     gest. 8. August 1897. Professor der Geschichte, gemalt von [Hermine

     von] Reck.“, Foto: Robert Spreng, Kaegi III.                        

 

Seite

Jugendlicher Burckhardt

 15

Bodetal, [ K II, 96], JBA 207, 27

 21

Hildesheim  August1840, [K II, 112] JBA 207, 27, eines

                                                                von 13 Blättern.

 29

Leipzig, Erker, Fürstenhof

 37

Köln, Dom, Rheinseite

 47

Kinkel (Skizze)

 59

Kinkel (Gemälde)

 69

Frankfurt, Nikolai am Römer

 77

Brügge Treppenhaus  [K II 352] JBA 207, 28

 87

Links:  Anna Selbdritt“, London, National Gallery,   Foto des Orignals.

Rechts: Skizze  zu Leonardo da Vinci, v. 21. August 1879 [Br VII 80]

 98

 

 99

London, Charing-Cross Eisenbahnbrücke  im Bau

               Stich aus dem Jahre 1863 [Br VII 32]

103

Titel Force and Freedom

109

Antwerpen [II  208

119

Antwerpen, im Dom [K II 336] JBA 207, 28.

127

München, Liebfrauenkirche, 1839 [K II, 32], JBA 207, 27.

131

Rhein bei Bingen, Charfreitag, 9. April 1841  [K II, 144]

                                                                           JBA  207,27.

137

Frankfurt, Mainlust   Skizze von J. Burckhardt  

147

Köln, Dom vom botanischen Garten aus (ohne Rhein-Sicht)                   1841  [ K II, 240]  JBA 207, 27.

155

Freiburg    [ I 524]  

165

Florenz I 556  

195

Worms, Westchor des Domes  April 1843 [Br II  432]

203

 

15 gemälde

 

Jacob Burckhardt, 1853, Ölbild

 

                 

 

 

     Verzeichnis der Skizzen

Seite

Lüttich, Pont des Arches,  58 [K II, 320]  JBA 207, 28.

213

Rom, Porta di popolo [III 64]

223

Rom, im Hof von Palazzo Albani [Wirkungsstätte Winckel

    -manns], bei den vier Brunnen

233

Rom Brunnen Palazzo Monte Giorano [Br III 208]

243

Rom, Titusbogen [III 160]

253

Gravedona, Palazzo Tolmeo  Gallio des Pelegrino

          Tibaldi, 1586 , Juli 1878   [VI 112]

261

Gravedona, La collegiata Juli 1878  [K VI  128]  

277

Rom, Aussicht von J. Bs. Wohnung gegen St. Peter unter

          dem  Brief vom  6. Dez. 1847.  [Br III 80].

287

Rom, Capitol     [Br I- 48]

303

Mantua 1878  [Br VI  224]

313

Jacob Burckhardt, 1847 [171]

337

Bergamo, Hof des Hauses Pignola No. 68, 1878

359

Joseph Joachim Winkelmann, Gemälde

369

Neues Haus mit schöner Fassade in Basel

379

Berlin. im nahen Tiergarten [K II 64] JBA 207, 27.

389

Magdeburg, Dom, von hinten [KII 80], JBA 207, 27,

           Harzreise August 1840.

399

Monreal in der Eiffel, Schloß der hl. Genoveva, 1841

          Pfingstreise, JBA 207, 27. [K II, 208]

409

Frankfurt, Dom und Compostella, April 1843. .

419

Rom, Venustempel, 1846 [K III 64] JBA 207, 29 vgl. die

           nächstverwandte Skizze zum Capitol p. 303

429

Photographie Burckhardts, Mai 1891.

 

439

 

 

 

Zur Einführung - Vorwort

 

        Es ist sonderbar, merkwürdig, welchen verschlungenen Wegen das Denken, das Streben, folgt. Das reiche geistige Leben verbirgt, verdeckt mir mein Ziel, überpflügt das Feld, andere Ideen geraten an die Oberfläche, andere „Ziele“, so daß ich die alten Absichten glatt übersehe, aus den Augen verliere. Vor zwei Jahren arbeitete ich an meinem Buch „Über Muße, Schönheit und den Sinn des Lebens“. Den Mittelpunkt und mehr als nur einen Aufhänger bildete in dem Buch die italienische Renaissance. So wie ich sie verstehe, ging es also um die Wiedergeburt der griechischen Kultur und des Hellenismus als orientierender Leitwelt.

        Man kann etwas tun, etwas suchen, etwas anstreben, ohne bewußt zu sein – was es ist, ohne überhaupt zu wissen, daß man gemeinsam – bzw. jeder für sich – an ein und derselben Sache arbeitet. Ebenso war es wohl mit dem, was wir heute als „die Renaissance“ bezeichnen. Es waren viele Menschen, Künstler - Maler, Bildhauer, Architekten - Dichter, Gelehrte … - und die Auftraggeber – die diese „Wiedergeburt“ betrieben, ohne, daß sie, der Einzelne oder gar alle zusammen sich darüber im Klaren waren. Erst 1860 mit Jacob Burckhardts Buch „Die Kultur der Renaissance in Italien“ hat sich wohl jene Namensgebung allgemein durchgesetzt.[5]

 

          Nach der Fertigstellung meines Buches über „Muße, Schönheit .. war mein Interesse für Hellenismus natürlich nicht erloschen. Mein Bedürfnis mich der Welt jener mythischen Griechen zu nähern, führte mich nach Samarkand und in den Iran, nach Ekbatan (Hamadan) und Persepolis (Chiraz) oder Esfahan als „Leuchttürme“, Schaustellen des Griechentums.  Andere Stationen taten sich auf, drängten sich dazwischen: Armenien. Dennoch – blieb ich mir bewußt: Armenien – der Kaukasus – sollte nur ein Atemholen sein in der Befriedigung meines Interesses für die Schönheit, für das Griechentum. Mir dient es tatsächlich nur als Stichwort, fast nur als  Metapher eines  speziellen Verständnisses vom Menschsein, das durch dieses Wörtchen nur recht unzureichend benannt werden kann.  

        Nach jenem Buch über Muße und Griechentum widmete ich mich der Werke und Auffassungen Joseph Joachim Winckelmanns. Neben allen Schriften, die er selbst verfaßt hatte, und dem, was Goethe und Herder über Winckelmann schrieben, arbeitete ich Carl Justis Werk  „Winckelmann und seine Zeitgenossen“ durch. Auch Justis Briefe aus der Zeit seines zweijährigen Aufenthalts in verschiedenen Gegenden Italiens erhellten mir Thema und Umfeld. Lessings Schriften zur Laokoon-Gruppe gehörten dazu. Man liest, man betrachtet die Fotos, schreibt ab, macht Notizen, vergißt.  

        Noch bevor ich mich  Jacob Burckhardt zuwandte, hatte ich mir verschiedene Schriften Heinrich Wölfflins zu Plastiken und Werken aus der Renaissance bzw. Vergleichen mit jenen vorgenommen. Mir war gar nicht klar, daß auch er bei Burckhardt gelernt hatte, dessen Basler Lehrstuhl für Kunstgeschichte er übernommen hatte. Bei der Lektüre seiner Bücher kam ich aus dem Staunen nicht heraus, es waren vielleicht die Nebensächlichkeiten, die Bemerkungen, die Wölfflin über  kleine Unterschiede zwischen dem gesprochenen Wort Goethes und dessen redigierten Fassung machte oder seine Skrupel aus einem gesprochenen Text  einen Buchabschnitt zu machen. Die offenkundige Überlegenheit des damaligen Vorlesungsbetriebes gegenüber dem heutigen Lehrbetrieb – wie ich ihn vor fünfzig Jahren (!!) erlebte – wurde mir bewußt.  Zwischen den Zeilen ruft Heinrich Wölfflin in Erinnerung, daß ihnen Beziehungen zu konkreten Menschen zu Grunde lagen, zu den Hörern seiner Vorlesung hatte  der Vortragende ein persönliches Verhältnis, konnte auf Mimik und Reaktion des Hörenden durch ergänzende – vertiefende, richtigstellende – Worte reagieren. Aber wie sehr hat sich in den Jahren zwischen Burckhardts Beginn als Kunstwissenschaftler und – Dozent auch die Technik im Vorlesungsbetrieb verändert: Während Burckhardt mit seinen Fotographien unterm Arm zur  Universität gelaufen war,  die er zum Teil gerade erworben hatte,  soll Wölfflin mit zwei Diaprojektoren gleichzeitig vor den Studenten agiert haben. (Und heute wissen viele gar nicht mehr, was ein Dia-Projektor ist oder war.)     

 

        Kant hatte 1790 in seiner „Kritik der Urteilskraft“ zum ersten Mal ein eigenes Gebiet für das Ästhetische abgegrenzt: das Gefühl. Gegenüber dem Primat des Verstandes und der in vorkantischen Philosophie üblichen Trennung der oberen und unteren Seelenkräfte wird hier die Einheit des Menschen betont und die Kunst als eine der Philosophie ebenbürtiges Organ die Welt zu erfassen, in ihr altes Recht eingesetzt.[6]

        Es ist merkwürdig – kann aber auch gar nicht anders sein, wenn man schreibt, wenn man denkt, selbst wenn man über Gefühle schreibt oder denkt, dann schreibt man oder denkt man ü b e r  die Gefühle, es sind also nicht die Gefühle selbst, die sich äußern und so ist es weder ein Wunder, daß Kants Erkenntnis 1790 neu war, wieder neu war, nach hunderten oder tausenden von Jahren der Vergessenheit, der Verdrängung.  Und ebenso erging es mir jetzt wieder: Mit meiner Beschäftigung mit Kunst, mit Schönheit, wollte ich eigentlich  - und will ich noch immer - den Gefühlen, meinen Gefühlen, denen meiner lebendigen Umwelt in ihren Ursprüngen –  näher kommen, sie erkennen und womöglich erfühlen, ihnen Raum und Achtung gewähren.

 

        Dieses Buch ist Jacob Burckhardt gewidmet. Er scheint  mir als mein Antipode zu sein - in vielem, sehr vielem, aber wohl doch nicht in allem. Ich bewundere ihn, ich bin begeistert von ihm, ich staune über die rigide Konsequenz seiner klugen Überlegungen und Aussagen. Etwas zu erkennen, und seine Gedanken in Worte zu fassen und diese gar nach Außen zu bringen, sie zu äußern oder gar zu veröffentlichen sind ja allesamt sehr verschiedene Dinge. Er konnte still beobachten, still vergleichen, still Urteile fällen. Er muß ganz sicher sehr viel und sehr schnell gedacht haben, davon zeugt die Überlänge und Inhaltsschwere seiner Briefe, die er schon als Zweiundzwanzigjähriger an seine Freunde geschrieben hat. Seine Gefühle nahm er wahr und konnte sie ausdrücken. Seine frühen Briefe sind Meisterwerke auch psychologischer Selbsterkenntnis, ich habe sie dennoch hier nicht abgedruckt. Er hat sich schon damals gehütet, seine Urteile und Gedanken Menschen mitzuteilen, denen diese Zurückhaltung nicht eigen war. 

        In meinem Leben haben die politische Tätigkeit, das Denken in politischen Kategorien und auch die Parteinahme immer eine große Rolle gespielt. Am Anfang, ziemlich am Anfang, stand die Tat.  Ich bedauere dies insoweit, als diese Tatsache Folgen hatte,  für die vielen anderen schönen Sachen blieb nur der zweite oder dritte Rang. Und es war – ich will mich nicht herausreden – auch nicht meine Entscheidung, sie wurde mir durch die Verhältnisse in der SBZ, der späteren DDR, abgenommen, aufgezwungen. Vielleicht, vielleicht – wenn mein Elternhaus anders gewesen wäre, wenn meine Mutter, mein Großvater mich zur Kontemplation angehalten hätten, vielleicht hätte mein Leben dann einen anderen Verlauf genommen. Ich bin ein Kind des 20. Jahrhunderts – und all meine Bücherliebe – meine Vernarrtheit in Bücher -  und auch das wurde von meiner alleinerziehenden Mutter gefördert, hat die Tat-Orientierung, diesen Zug zum Handeln, nicht unterbrechen, nicht abwenden können. 

        Ganz offensichtlich hatte auch Burckhardt politisches Gespür und Interesse, schon seine ersten Briefe sind voll mit politisch-sozialen Beobachtungen. Ihm jedoch gelingt es sich rechtzeitig zurückzuhalten, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich aus dem Zug des „Maikäferbundes“ zu lösen. Seine historischen Studien müssen ihm schon sehr früh geholfen haben, zu überblicken, wohin das Ganze wieder einmal läuft.

 

        Von dem meisten, was ich hier über Burckhardt schreibe, weiß ich erst seit kurzer Zeit.  Vor gut zwanzig Jahren hörte ich das erste Mal seinen Namen. Das war im Zuge meiner gründlichen Beschäftigung mit dem Werk Hermann Hesses in den Neunzigern. Es war wohl, wie ich es heute sehe,  eine Flucht  – sowohl aus einer Lebens- und  Beziehungskrise als auch nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und des Restes an politischer Utopie eine Suche nach neuen Wegen oder Ankern. Damals jedenfalls gab es kein Buch, kein Essay von Hermann Hesse,  das ich nicht begierig las. Seine Romane – von „Narziß und Goldmund“, über den „Steppenwolf“ bis hin zum „Glasperlenspiel“ stellen in einzigartiger Weise die Zeitlosigkeit menschlichen Lebens in den Mittelpunkt. Abseits der Themen, die heute und auch schon damals  (??) die Medien, die hohe Politik befassen, wird das Eigene des Menschen in den Mittelpunkt gerückt. – Nicht das ihnen eingeredete Fremde, auch nicht das Streben nach Gegenständen, deren tatsächliche Wertlosigkeit sich daran erweist, daß sie schon morgen die Tonne füllen.

  

        Lebensqualität und Glück[7] sind ja nichts, was sich durch die Anzahl von Euro, Dollar  oder Zloty ausdrücken lässt. Im Gegenteil gefährdet die Käuflichkeit vieler Dinge, ihr Warencharakter, die Qualität des Menschen selbst, der scheinbar und durch sein (unser aller) Verhalten Warencharakter annimmt, so daß wir unsere Mitmenschen dieser ex- und hopp-Mentalität unterwerfen. Die Art unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, die wir alle pflegen, ihre Länge oder Dauer, wie wir sie „entsorgen“, per SMS oder im ernsten Gespräch, ihre Beliebigkeit usw. sagt schon etwas aus.  Hermann Hesse war wohl noch ein Dichter der Zeitlosigkeit, des Lebens an sich, seine Bücher und Gedichte waren keine Tendenzstücke – wie es sie heute doch in großem Maße oder überwiegend gibt, sie beschreiben und vertreiben ihre Zeit, vertreten ihre Tendenz mehr recht als schlecht. Ihr Sinn geht so auch mehr oder weniger mit dieser Zeit zugrunde. Als Zeitstücke  repräsentieren sie die Hast und Eile, in der wir alle leben. 

        In der Sekundärliteratur stieß ich auf die Aussage,  Hesse sei ein Kind der Geisteswelt Jacob Burckhardts. Ich ließ es zunächst einmal dabei bewenden. Später - vielleicht im Zusammenhang mit meinen Studien zu Nietzsche oder war es mehr das Interesse an Italien,  besorgte ich mir weitere Werke. „Die Kultur der Renaissance in Italien“, las ich mit Begeiste-rung, aber Burckhardt geriet noch nicht voll in den Mittelpunkt meines Interesses.  Das vollzog sich erst Anfang des Jahres. Längst hatte ich mir viele seiner Bücher besorgt, und es ist ja auch ein angenehmes Gefühl, in seine „Speisekammer“ zu schauen und dort noch so viele leckere Speisen zu sehen, die zu genießen sind, wenn der erforderliche Appetit  wieder da ist – und der Magen leer. 

        Sonderbarerweise waren es dann aber gar nicht seine großen  Hauptwerke über Konstantin, über die Griechen oder die Weltgeschichte, sondern einige seiner Briefe aus den Jugendjahren und ebensolche über Rousseau und den deutsch-französichen Krieg 1870/71, die mich fesselten und veranlaßten, die große Ausgabe seiner Briefe durchzusehen. Na, eins gibt das andere, und so habe ich mir jetzt nahezu den ganzen  Burckhardt einverleibt. Besonders die „Griechische Kulturgeschichte“ hatte es mir angetan - und so war ich gespannt: Wie sieht dieses Werk sein großer Biograph Werner Kaegi. Erst zwei Jahre nach dem Tode Kaegis ist dieser (letzte) Band – mit testamentarischer Erlaubnis - erschienen. 

 

               Burckhardt wurde 1818 - im selben Jahr wie Karl Marx – geboren. Einer alten Basler Pfarrersfamilie entstammend, begann er ein Studium der Theologie. Sehr früh muß er erkannt haben, daß eine Versöhnung seiner Weltbetrachtung mit der eines Theologen unmöglich sein wird. Man erinnert sich an die intimen Erlebnisse des jungen Burckhardt im theologischen Hörsaal De Wettes: «De Wettes System wird vor meinen Augen täglich kolossaler. ... Heute bin ich endlich draufgekommen, daß er Christi Geburt durchaus für einen

               002 L-kugler

     

        Jacob Burckhardt, skizziert im Kuglerschen Kreis.   

 

Mythus hält - und ich mit ihm. Ein Schauder überfiel mich.»[8]

       Burckhardt[9] muß damals alles durchdacht haben, er hatte sich im Maikäferbund bei Johanna und Christoph Kinkel „organisiert“, ging in Berlin bei Bettina von Arnim ein und aus,  durchwanderte mit Franz Th. Kugler (1808-1858) Teile der Umgebung Berlins und muß schon zu Be-ginn der 40er Jahre zu der persönlichen Entscheidung gefunden haben, daß der Weg in die Massengesellschaft über erneuten Terror und andere sich wiederholende Schrecklichkeiten zur Entpersönlichung und allgemeinen Verhäßlichung der Welt führen werde.  

 

        Leider hat Burckhardt alle Briefe an seinen Vater und auch die an seinen Freund Franz Kugler vernichtet bzw. vernichten lassen. Wie sich der Prozeß der Entwicklung und Herausbildung seiner Positionen abgespielt hat, können wir im Einzelnen nicht mehr nachvollziehen. In den Briefen an Hermann Schauenburg und dann auch an das Ehepaar Kinkel scheinen seine persönlichen Entscheidungen weitgehend vollzogen und er hat Abstand genommen von den Positionen, die er möglicherweise in seiner „Maikäferzeit“ zusammen mit Kinkel und Fresenius eingenommen haben mag. Am 28. Februar 1846, also zwei Jahre vor den Revolutionsjahren 1848 und 49  fasst er in einem Brief an Hermann Schauenburg seine Sicht zusammen:

„Ihr alle wißt noch nicht, was Volk ist und wie leicht das Volk in barbarischen Pöbel umschlägt. Ihr wißt nicht, welche Tyrannei über den Geist ausgeübt werden wird, unter dem Vorwand, daß die Bildung eine geheime Verbündete des Kapitals sei, das man zernichten müsse. Ganz närrisch kommen mir diejenigen vor, welche verhoffen, durch ihre Philosopheme die Bewegung leiten und im rechten Gleise erhalten zu können. Sie sind die feuillants der bevorstehenden Bewegung; letztere aber wird sich so gut wie die Französische Revolution in Gestalt eines Naturereignisses entwickeln und alles an sich ziehen, was die menschliche Natur Höllisches in sich hat. Ich möchte diese Zeiten nicht mehr erleben, wenn ich nicht dazu verpflichtet wäre; denn ich will retten helfen, soviel meines schwachen Ortes ist. Für Dich ist mir gar nicht bange; ich weiß zu gut, auf welche Seite Dich die Ereignisse stellen werden. Untergehen können wir alle; ich aber will mir wenigstens das Interesse aussuchen, für welches ich untergehen soll, nämlich die Bildung Alteuropas.“ [10]

       Wenn ich jetzt 2017 diese Worte lese, schaudert es mich angesichts der Weitsicht Burckhardts. Ich höre im Geiste die Worte Manès Sperbers, wie er sich der Sprechchöre der Massen erinnert, die für Stalin, für Hitler, für Franco die Straßen gefüllt haben in Moskau, in Berlin, in Paris und begeistert ekstatisch  - in Ekstase - die Losungen von Partei und Staat gebrüllt haben, dieselben Menschen.

Manès Sperber, All das Vergangene, 2. Aufl. 1983, p. 293f. Sperber war in den dreißiger Jahren zusammen mit Arthur Koestler im Büro Willy Münzenbergs in Paris für die Komintern tätig.

 

       „Die Stadt, diese alte heruntergekommene Stadt verjüngte sich. Am 1. Mai 1920 strömten Hunderttausende von Arbeitern und Angestellten, das ganze werktätige Volk von Wien, aus allen Bezirken zum Ring, der die Innere Stadt umschließt. Die Demonstranten, Männer, Frauen und Kinder, die Kleinsten auf den Schultern ihrer Väter, zogen mit Fahnen, Wimpeln und Blumen zum »roten« Rathaus.

Unweit der Stelle, an der ich, eingekeilt in einer farblosen, verzweifelt erwartungsvollen Menge, anderthalb Jahre vorher der Ausrufung der Republik beigewohnt hatte, beobachtete ich nun von der Treppe des Burgtheaters aus den endlosen Zug. Ich sollte in den nachfolgenden Jahren noch viele Aufmärsche demonstrierender Massen sehen — in Wien, in Berlin, in Moskau und in Paris.

      Doch an jenem Vormittag nur geschah es, daß dieser Anblick in mir eine unsagbare Freude und das Staunen über eine bisher ungekannte, unverhoffte Harmonie hervorrief. Ich erlebte da etwas, was sonst nur in Büchern vorkam: meine Augen füllten sich mit Tränen, Tränen des Glücks darüber, daß es desgleichen geben konnte, und darüber, daß ich zu diesen Menschen gehörte. »Mit uns zieht die neue Zeit« war der Refrain eines der Lieder, die diese Demonstranten nicht müde wurden zu singen.

Die Masse; die weltgeschichtliche Aufgabe der Proletarischen Masse; die Massen sind alles, der einzelne nichts; der Wille der Massen; das Massenbewußtsein — welch starker Klang eignete diesen Worten, ehe sie zu Klischees der  revolutionären Phraseologie wurden! Das rote Wien, das rote Berlin, das rote Paris — ich habe sie gekannt. Ich bin in den Reihen ihrer Massen mitmarschiert — alle Straßen schienen in die Zukunft zu führen, in das weltumspannende Reich der .Freiheit und Gleichheit für alle, alle, alle . . . Und ich habe den Aufmarsch der Massen gesehen, die Hitler zujubelten und Mussolini und Petain . . . Zu 60, wenn nicht 80 Prozent und noch mehr waren es die gleichen, nur die Farbe wechselte: rot, schwarz, braun.

Und es waren Massen, die gleichen, die in Moskau und Leningrad Trotzki zujubelten, dann Bucharin und Tuchatschewski und sodann ihren Mördern. Und auch diese Massen kannten wir gut, denn wir hatten sie in den Filmen Eisensteins und Pudowkins gesehen und in den sowjetischen Wochenschauen bewundert.“

 

 

        Die von Jacob Burckhardt beobachtete Entwicklung sah er im kleinen wie im großen pessimistisch. Besonders auch die Entwicklung des Bildungswesens, der Zug zur Kujonade – wie er es in dem hier im Buch zitier-ten Brief an Preen vom 2. Juli 1871 beschreibt, machte ihm keinerlei Hoff-nungen. Die Erwartungen und Erfahrungen seiner engen Freunde  Otto Ribbeck (Brief vom 19. Febr.1866 bzw. Brief vom 2. Januar 1882) gingen in dieselbe Richtung.[11]

        Ich bin natürlich ein Kind des 20. Jahrhunderts, und längst  ist die vernichtende Kritik üblich geworden, längst fragt sich kaum jemand, warum die Alten, die Väter, die Großväter die Gedanken, die wir heute ablehnen, einst hochgehalten haben. Wir verstehen sie intellektuell nur sehr bedingt und gefühlsmäßig überhaupt nicht. Und wir Nachgeborenen haben auch nicht verstanden, was wir unseren Eltern und Großeltern angetan haben, als wir nach dem Krieg begannen „aufzuräumen“, und unsere Eltern pauschal mit den ganzen Verbrechen der Nazi-Zeit zu belasteten. Es ist bezeichnend: so wie der Geschichtsunterricht in den (westdeutschen) Schulen der Fünfziger Jahren irgendwie mit den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts endete, so beginnt das Geschichtsverständnis für die Geschichte unserer Zeit und unseres Landes erst irgendwie mit der Zeit des „Dritten Reiches“. Schon ein Infragestellen der heute nun vorherr-schenden Auffassung über die Rolle der Reichswehr und Wehrmacht wird ziemlich pauschal  als Neo-Nazi-Propaganda oder „Populismus“ abgetan.

 

        Ein ähnlich simples „Verständnis“ herrscht für Personen wie Stalin und Hitler, es ist ja nicht so, daß mit einem Mal die Person des großen Stalin vom Himmel fiel und alle fielen auf die Knie, sondern die Menschen machten ihn zum „Führer“, zum Abgott, in einem hochkompliziertes Wechselspiel von Bedingtheiten im eigenen Land. Das alles vollzog sich  auf der internationalen Bühne.  Ebenso vollzog sich übrigens auch der spätere Gegenprozeß der allmählichen Entstalinisierung, der keineswegs sein Ende mit der Auflösung der Sowjetunion fand.

Und  für Hitler gilt natürlich das Gleiche. Abgesehen davon repräsentierte Hitler und sein System die Alternative zum Sowjetsystem, ein großer Teil einfach nur konservativ denkender Menschen hatte sich deshalb zähneknischend (??) hinter ihm versammelt.

 

        Doch ich möchte mich auf mein Thema konzentrieren. Meine Darstellung schweift nicht ab, dies verdeutlicht zum Beispiel die Tatsache, daß die Veröffentlichung der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ in den USA 1942 einerseits für politisch wünschenswert gehalten wurde, andererseits jedoch jenes zu dem Zeitpunkt siebzig Jahre alte Buch dem Zensor übergeben wurde, der Streichungen anordnete.

 

Jacob Burckhardt jedenfalls hatte sich sein Leben lang sehr für solche Fragen interessiert. In besagten Betrachtungen hat er ganze Ablaufszenarien  abgeliefert. Im Zusammenhang mit Robbespiere, und dann Napoleon oder dem Bonapartismus existiert ja auch ganz unabhängig von dem Historiker Jacob Burckhardt viel Material, das auszuwerten ist, manches war schon vor Burckhardt auszuwerten und manches harrt ja noch immer  einer Ausarbeitung. Denn Geschichte ist ja nicht einfach nur eine Aufzählung von Ereignissen und Abläufen. Jacob Burckhardt hat mit seinen großen historischen Werken, „Die Zeit Konstantin des Großen“,  und ebenso in seinem postum erschienenen vierbändigen Werk der „Griechischen Kulturge-schichte“ Tendenzen und Phasen nachgewiesen.  Die historische Wissenschaft entwickelt also  aus der Analyse der vorliegenden Fakten Kenntnisse, die mehr sind als die reine Abfolge von Beobachtungen. Ich scheue mich hier etwas, meinerseits zusammen-zufassen, zu welchen verschiedenen Urteilen Jacob Burckhardt in all diesen Arbeiten gekommen ist.

         Ich glaube jedoch feststellen zu dürfen, daß  für Burckhardt sich hinter dem Ruf nach „Demokratismus“, nach Volkes Stimme immer nur mächtige Interessen verbergen, die schließlich eher das Gegenteil von Verwirklichung von Individualität und persönlichem Glück des Einzelnen bedeuten. In seinen Aufsätzen und Vorträgen zu Napoleon III. und zum Bonapar-tismus macht er das deutlich und auch seine ganze Darstellung der Grie-chischen Kulturgeschichte läßt sich so auf einen Nenner bringen. 

 

             01 bodetal 1840 II 96

 

               Bodetal, 1840 [K II 96]

 

       Dem jungen Kugler gegenüber  hat Burckhardt seine Haltung einmal in die unbekümmerten Sätze zusammengefaßt: „Ich spreche in Büchern absolut nur von dem, was mich interessiert, und behandle die Sachen nur darnach, ob sie mir und nicht ob sie dem Gelehrten Kunz oder dem Professor Benz[12] wichtig scheinen; …lange bevor die Schuttschlepper nur von ihrem Karren aufgestanden sind, um uns Unangenehmes nachzurufen, sind wir schon über alle Berge.“[13] „Universal sein" hieß ihm, der sich einmal scherzhaft einen „Erzdilettanten“ nannte, nicht „möglichst vieles wissen, sondern möglichst vieles lieben".[14]

 

        Mir war schon früher bei den literarischen Besprechungen von Hermann Hesse aufgefallen, daß dieser die positiven Seiten eines Werkes deutlich in den Vordergrund rückte. Historisch trifft er sich dabei wohl mit der Haltung Burckhardts, der zuerst immer versucht, auch das Abgelehnte zu verstehen und dem Alten Achtung entgegenbringt.  

 

Der Kern dieser Auffassung besteht meiner Ansicht darin, daß die Vielheit der Auffassungen und Einstellungen bei beiden – bei Burckhardt wie bei Hesse - grundsätzlich als Positivum gewertet werden, während unsere Zeit offensichtlich genau die gegenteiligen Ziele vertritt, auch wenn sie vorgibt tolerant zu sein. Unsere Zeit drängt auf eine Vereinheitlichung der Anschauungen, wünscht den Einheitsstaat[15], hat mit Form von unterschiedlichen Lerntempi oder regionalen Bildungszielen nichts im Sinn, bekämpft deshalb die Reste des Föderalismus, die in unserem Grundgesetz noch vorgeschrieben sind. Die Länder sind dabei, diese Dinge für ein Linsengericht an den Bund zu verhökern.  Bei Burckhardt findet man statt dessen ständige Warnungen vor dem Großstaat, der die Möglichkeiten und Rechte des Individuums gefährdet.

        Für mich ist es offenkundig, daß alle großen Dinge in der Geschichte immer nur durch große Einzelne, durch Mozart oder Einstein, durch Händel oder Daimler, durch Cäsar oder Michelangelo eingeleitet wurden.

        Im Rahmen meines Physik-Unterrichts hatte ich die Beziehung 

W = h*f  mit der Gegenfeldmethode experimentiell herzuleiten, wobei W die Energie, h die Plancksche Konstante und f die Lichtfrequenz ist. Bei diesem Experiment gewinnt man zunächst die Erkenntnis, daß die Erhöhung der Lichtintensität ihre Qualtät nicht ersetzen oder ausgleichen kann. Nur wenn eine energiereichere Qualität von Photonen (also energiereicheres Licht) verwendet wird, lässt sich das Gegenfeld überwinden. In der letzten Zeile des Gedichts von Platens über das Glück empfand ich das ausgedrückt.

Wer wußte je das Leben recht zu fassen,

(…)

Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen:

Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,

Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.“

 

Dieser Auffassung steht die folgende gegenüber:

             «Es ist das Volk, das die Musik schafft,

             wir Musiker arangieren sie nur»[16]

                                                             (Schostakowitsch)

                                                            

Die von mir skizzierte Burckhardt’sche Auffassung kam immer wieder zum Vorschein, z. B. in dem Brief an Hermann Schauenburg, den ich als „Abnahme des Eigenartigen – Erstarrung als Ersatz für Wissenschaft“ überschreibe.

  „(..)  Laß doch Deine Feindschaft gegen das Mittelalter! Was uns etwa drückt, das sind die Affen des Mittelalters, nicht das echte und wahre Zeitalter Dantes und Konsorten, welches au contraire[17] ganz famose Leute waren. Das klassische Altertum, wenn es par ordre de Mufti wieder eingeführt würde, wäre nicht viel weniger lästig. Ich habe die historischen Beweise in Händen, daß man im Mittelalter sich ganz göttlich amüsiert hat und daß das Leben so farbig und reich war, wie man es sich jetzt gar nicht mehr vorstellen kann. Dieses nebenbei. Laß Dir nur von den Liberalen nichts mehr in historischen Dingen aufbinden, sie schwatzen im Grunde noch immer den französischen Enzyklopädisten nach. »Aber sän Se, des will ich Ihnen sagen, die Bildung, die mer jetzt haben ...« ist keinen Schuß Baumwolle wert und macht nur, daß das Pack alle über einen Leist geschlagen ist. Hermann, dieses ist ein langes Thema, die Ausbreitung der Bildung und die Abnahme des Eigen-artigen, des Wollens und Könnens; worüber diese Welt noch einmal in dem höchsteigenen Mist ihres Philisteriums ersticken und verfaulen wird. Ich habs gleich g'sagt.“ [18]    

        Diese Sichtweise war wohl schon immer für die Vielen schwer nachzuvollziehen oder gar einzusehen. Es ist einfach bequemer mit der Herde zu trotten und die abweichende Meinung wird sehr leicht diffamiert und ausgegrenzt, was wir ja heute z. B. in der Frage (West-) Europäischer Freizügigkeit oder der Flüchtlingsfrage oder der Frage nach unserer eigenen Geschichte als Deutsche erleben. Wer es wagt, die vorherrschenden Meinungen in Frage zu stellen, gar eine eigene Meinung zu vertreten, die vom „Mainstream“, - man muß sich schon sprachlich den vorherrschenden fremden Lehnworten anpassen - , der muß sich warm anziehen, um dem geballten Druck der Mehrheits-meinung standhalten zu können. An „Demonstrationen“, bei denen auch das Eigentum zu Bruch gehen kann, wird`s nicht fehlen. Früher betonten Denker im Zusammenhang mit Herrschaft die Bedeutung des Schutzes der Minderheitenmeinung.

Mit meinem Ausflug in die Welt ziemlich dicht um mich herum, auch wenn ich selbst glücklicherweise alles aus dem Refugium noch fast ländlichem Leben betrachten darf, kehre ich zu jenem verlorenen „Eigenartigen“ zurück.                                                                     

 

„Eine Tugend[19] gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn. — Von allen den vielen Tugenden, von denen wir in Büchern lesen und von Lehrern reden hören, kann ich nicht so viel halten. Und doch könnte man alle die vielen Tugenden, die der Mensch sich erfunden bat, mit einem einzigen Namen umfassen. Tugend ist: Gehorsam. Die Frage ist nur, wem man gehorche. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle anderen, so sehr beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem »Sinn« des »Eigenen«.

Hermann Hesse hat diese Zeilen geschrieben – auch sie drücken das aus, was ich meine.

 

Jacob Burckhardt  als Autor der  Griechischen Kulturgeschichte

Gewiß kann man sich darüber streiten, welches Arbeitsgebiet und welches Werk Burkhardts sein wichtigstes ist. Die Antworten ´auf jene Frage werden sehr subjektiv sein. Ja nachdem, was man für sich selbst, für die Menschheit oder für deren Geschichte für das Wichtigste, Bedeutsamste oder Nachhaltigste hält, wird man diese Frage höchst unterschiedlich beantworten. Mir war der Hellenismus, das Griechentum – oder was ich dafür hielt – immer  von zentraler Bedeutung. Griechentum war für mich Inbegriff von Kultur und Menschsein, von Humanismus – Menschlichkeit, Wärme, Schönheit, Gemeinschaft – Gemeinsinn und Geist, Beginn und höchste Vollendung von all dem.  Vorstellungen und Realitäten müssen nicht zusammenfallen. Und im Laufe meines Lebens hat sich auch Dieses und Jenes in mir selbst verändert und modifiziert. Aber es bleibt für mich der Kompaß.

 

Burckhardt hat im Abschnitt «Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens»  eine grundsätzliche Erklärung abgegeben: 

       «In Betreff der alten Griechen glaubte man seit der großen Erhebung des deutschen Humanismus im vorigen Jahrhundert im Klaren zu sein: im Widerschein ihres kriegerischen Heldentums und Bürgertums, ihrer Kunst und Poesie, ihres schönen Landes und Klimas schätzte man sie glücklich, und Schillers Gedicht ‚die Götter Griechenlands’ fasste den ganzen vorausgesetzten Zustand in ein Bild zusammen, dessen Zauber noch heute seine Kraft nicht verloren hat. Allermindestens glaubte man, die Athener der perikleischen Zeitalter hätten Jahr aus, Jahr ein im Entzücken leben müssen. Eine der allergrößten Fälschungen des geschicht-lichen  Urteils, welche jemals vorgekommen, und umso unwider-stehlicher, je unschuldiger und überzeugter sie auftrat. Man überhörte den schreienden Protest der ganzen überlieferten Schriftwelt, welche vom Mythus an das Menschenleben überhaupt beklagt und verschätzt; und in betreff des besonderen Lebens der griechischen Nation verblendete man sich, indem man dasselbe nur von den ansprechenden Seiten nahm und die Betrachtung gerne mit der Schlacht von Chäroneia abschloß. Ganz als wären die folgenden zwei Jahrhunderte, welche das Volk, und weit überwiegend durch sein eigenes Tun, bis nahe an die materielle Zernichtung führten, nicht die Fortsetzung des Vorhergegangenen gewesen.»[20]

 

Apollinisches und Dionysisches bei Burckhardt und Nietzsche:

„Nichts kann existieren ohne Ordnung

– nichts kann entstehen ohne Chaos.“[21]

Albert Einstein verdeutlichte mit diesen Worten die Problematik. Werner Kaegi schreibt in dem Abschnitt über die Griechische Kulturgeschichte: Burckhardts und Nietzsches  Auffassungen und Darstellungen – in der „Kulturgeschichte“ und in der „Geburt der Tragödie“ ergänzen sich, man könne im Grunde genommen, den einen Text nicht ohne den anderen verstehen. Im Anhang habe ich deshalb Auszüge aus Nietzsches Text wiedergegeben, Die Vielschichtigkeit des Problems zwischen Apollinischem und Dionysischem, macht eine ständige Gratwanderung  notwendig – und man weiß nie genau, wo der „Grat“ gerade zu finden ist. Der Auszug von Goethe wägt den gleichen Sachverhalt ab. Da es ja um Leben, um Lebendigkeit, geht, ist es sinnvoll, sich klar zu machen, daß eine „vollkommene“, nicht mehr angreifbare „glatte“ Beschreibung kaum hilfreich sein dürfte. Die Hinweise Goethes zu verstehen, bzw. versuchen zu verstehen, empfinde ich als hilfreich: die Götter sind Konstrukte, Imaginationen der Gedanken, Eigenschaften usw. von Menschen. So wie ich den Goethe-Text verstehe, handelt es sich bei den Göttern auch um personifizierte Ideen. Ähnlich vielschichtig wird es, wenn man den Text über Pythagoras „als religiöse Tatsache“ (Burckhardt-Text in der Griechischen Kulturgeschichte) mit den Aphorismen im 2. Nietzsche-Anhang zu den Grundlagen der Konstituierung des Christentums als Religion und dem Lutherischen Protestantismus kontrastiert.                             

 

Die Herausbildung der breitgestreuten Individualität, selbst ein Resultat agonaler Praxis, hält m. E. Jacob Burckhardt für das wichtigste Resultat der Geschichte bzw. „an sich“ für die bedeutendste Qualität. Wenn ich die Aussagen und Vorlieben betrachte, die Jacob Burckhardt wichtig waren, so ist es vor allem jene Individualität. Insoweit die Polis dieser Individualität Ketten anlegte, erscheint ihm diese verwerflich und ebenfalls ist es jene Individualität, die in der heraufdämmernden Industriegesellschaft verloren geht. Eine der von Burckhardt an Nietzsche bewunderten Eigenschaften ist jene  Fähigkeit zu jeder Sache eine qualifizierte eigene Position zu gewinnen und zu vertreten.[22] Diese Individualität ist es auch, wegen der er in der „Griechischen Kulturgeschichte“ Sokrates schätzt. Obwohl er ihn als recht üblen Menschen darstellt, der fast von jedem Bürger der Polis gemieden wurde,[23] glaubt W. Kaegi, daß Burckhardt ihn im Gegensatz zu Nietzsche schätzt, weil er über diese großartige Individualität hinaus auch die Bedeu-tung des Wissens sehr relativiert und die des Denkens, des immer neuen Denkens unterstreicht.

        Im Juni 2017 jährte sich die von Wilhelm von Humboldt für Preußen bestimmte Hochschulreform zum 200. Male, Heike Schmoll erinnerte in der FAZ: Wilhelm von Humboldt ging es darum, an der Universität „das Prinzip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht Gefundenes und nie ganz Aufzufindenes zu betrachten und unablässig sie als solche zu suchen.“ (..)„Der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Anderen versuchend geprüft hat.“ Aus diesem Grund sah Humboldt die Studenten von Anfang an als Mitforschende und das Gespräch mit den Professoren gerade nicht als Unterrichtsgespräch. Denn das Denken selbst braucht den anderen. „Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft.“[24] 

        Aus diesen Gedanken folgt auch, daß der andere nicht einfach nur eine Kopie des ersten sein darf, sondern selbständig denken und urteilen können muß. Eine Gesellschaft, die Denkverbote kennt und mehr und mehr derartige Tabus setzt, z. B. durch Normierung der Sprache, Aussonderung von Worten etc. kann m. E. wissenschaftlich nicht funktionieren und muß

 

       02 Hildesheim 1840  II 112

        Hildesheim, 1840 [K II, 112]

wissenschaftlich unfruchtbar werden. Das gilt m. E. natürlich auch für jede Form von Quoten, unabhängig davon, ob sie landsmann-schaftlicher, rassischer oder geschlechtlicher Art sind.

 

 „Sehr amüsant ist Ihr Bericht vom Alternieren der beiden Missionen und von dem guten Volk, welches ›es nimmt, wie's kommt‹. Leute wie groß S und klein s (ich vermute aus Heidelberg) müssen in der Welt sein. Sie glauben nicht, wie man bei wachsenden Jahren die Existenz solcher Lärm-trommeln zu schätzen weiß; die große Menge, in ihrer Zerfahrenheit, braucht einen Rhythmus, in welchem sie dann marschiert und ohne welchen sie gar keine Fasson haben würde. Inzwischen läßt man uns in Frieden, und wir können unseren Gedanken nachhängen.“ An Preen 27. April 1870[25]

 

Nach meinem erneuten Beschäftigung verwundert mich, wie wenig Burckhardts Erkenntnisse über die Polis Eingang in die griechenorientierte Diskussion gefunden haben. Ich beziehe mich hier auf  Hannah Arendt, aber auch auf  Hermann Hesse, etwa den Text von Ninon, den ich in meinem Band „Muße, Schönheit…“ wiedergegeben habe. Ich habe den Eindruck, die Problematik des Griechentums, also seine schlimmen Schwächen und Probleme scheinen auch in die utopieorientierte Diskussion kaum eingegangen zu sein. Es wiederholt sich, was mir auch schon bei der Lektüre der Texte Hannah Arendts, etwa bei ihrem Totalitarismus-Buch aufgefallen ist. Die Texte,  jedenfalls ihr Inhalt,  schienen keinen inhaltlichen – höch-stens einen Einfluß als „Schlag“-Wort auf die politische Diskussion in den darauf folgenden fünfzig Jahren gehabt zu haben. Und recht ähnlich verhält es sich in Bezug auf die Griechen, die Problematik der Polis als autoritärer Zwangscharakter für ihre Bürger, der sie auf Gedeih und Verderb auch ideologisch völlig unterworfen waren, war mir überhaupt nicht bekannt. Und bei den beiden zentralen Personen Sokrates und ebenfalls bei Pythagoras habe ich jetzt erfahren, daß der erstere sozusagen gegen das statische Wissen opponiert hat und das selbstständige ständige neue Denken eben in den Vordergrund gestellt hat und im Falle der Texte über  Pythagoras war mir die Lektüre eine Revolution. Die Mathematik bildete  in seinem „Werk“ eine kleine Zugabe zu einem eher umfassenden metaphysisch-religiösen Lehrgebäude, das allerdings inhaltlich von hoher Bedeutung für die Herausbildung der christlichen Dogmatik – fünfhundert Jahre nach Pythagoras – gewesen sein könnte.

 

        Werner Kaegi weist im VII. Band seine Burckhardt-Biographie nach, daß Burckhardt und Nietzsche ein wenn man den Altersunterschied beachtet überaus enges und freundschaftliches  Verhältnis hatten. Auch von Burckhardts Seite war es weit mehr als nur die Anerkennung, daß er es in Nietzsche mit einem ebenbürtigen und selbständigen Denker zu tun habe, es gab darüber hinaus ganz sicher auch in vielen Fragen Gemeinsamkeiten in ihrer Ablehnung des  Zeitgeistes. Es ließen sich genügend Zitate zusammenstellen, in denen auch Burckhardt Front gemacht hatte gegen eine Gesellschaft, in  der das Geldverdienen das einzige Lebensziel und Zweck bildet. Das Eingangszitat von Nietzsche „Muße und Müßiggang“ entspricht den Intentionen Burckhardts. Überhaupt bilden die drei - Burckhardt, Nietzsche und Hesse - so etwas wie drei korrepondierende Sterne am Firmament.

 

        Der folgende Januarius-Vorsatz Nietzsches paßt da gut hinein:

„Zum neuen Jahre. - Noch lebe ich, noch denke ich: ich muß noch leben, denn ich muß noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum[26]. Heute erlaubt sich jedermann, seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, - welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen: — so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati[27], das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Häßliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, alles in allem und großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!“[28]

 

         Potsdam, im Januar 2018           Hans Gellhardt

 

 

 

           



Stationen

Jacob Burckhardt  unterwegs -  Briefe aus Berlin – Paris – Holland – England - Zur Kultur und zum Bildungswesen –

Im Mahlstrom fortschreitender Maschinisierung

 



[1] Plotin (griechΠλωτῖνος Plōtínos, latinisiert Plotinus; *205; † 270 auf einem Landgut in Kampanien war ein antiker Philosoph. Er war der Begründer und bekannteste Vertreter des Neuplantonismus. Porphyrios entschied sich als Herausgeber gegen eine chronologische Ordnung und  gruppierte nach inhaltlichen Gesichtspunkten Plotins Nachlass (54 Einzelschriften) sechs Gruppen von jeweils neun Schriften, sogenannten Enneaden – „Neuner(gruppen)“.

[2] Friedrich Nietzsche, „Fröhliche Wissenschaft“ in: Werke in drei Bänden, Kettwig, 1990, Band 2, Nr. 122(329) Seite 88f.   

[3] otium – Muße

[4] contemplativa – beschauliches Leben.

 

 

[5] Vgl. Wikipädia, zum Begriff der Renaissance.

[6] Goethe, Hamburger Ausgabe Bd.12 p. 593 – Ich fand die Notiz in meinem Tagebuch und habe einige dieser Passagen als Anlage III. zum Begriff des „Dionysischen und Appolinischen“ bei Sokrates, Nietzsche und Burckhardt wiedergegeben. 

[7] Ein gesellschaftliches Leben, politisch und wirtschaftlich - staatlich oder mehrstaatlich organisiert, dessen Erfolg darauf ruhen soll, ein ständiges Wachstum der menschlich produzierten Güter zur Grundlage seines Wir-kens zu machen, organisiert den Selbsttod. Der Raum, die Fläche – in der sich die Natur regenerieren kann - wird klein und kleiner, der Anteil der Wälder „wird zurückgegangen“, in gigantischen Ausmaßen werden diese Anteile gerodet. Nur noch in Reservaten kann die alte einst auf der Erde vorhandene Tierwelt befristet (?) überleben.

Mit unserer Art der gesamtgesellschaftlichen Lebensorganisation unter-minieren wir  die organischen Grundlagen des Lebens auf der Erde, das „Heil“ wird wohl nur in regelmäßigen Katastrophen ungeahnten Ausmaßes finden sein.   

[8] 241 Vgl. Kaegi, Biographie, Bd. I, p. 449, hier zitiert nach Bd.VII, p. 81

[9]  «Als Gott ist mir Christus ganz gleichgültig - was will man mit ihm in der Dreieinigkeit anfangen? Als Mensch geht er mir läuternd durch die Seele, weil er die schönste Erscheinung der Weltgeschichte ist. Wer so was Religion heißen will, der mag es - ich weiß mit dem Begriff nichts aufzu-stellen.» Brief an Beyschlag, 14. Jan. 1844. vgl. Kaegi II, p.293

 

[10] Aus dem Brief an Hermann Schauenburg vom 28. Febr. 1846 http://gutenberg.spiegel.de/buch/briefe-4973/7 dort  Brief bzw. Kapitel Nr. 7

[11] Vgl. hier im Buch, zur Vorgeschichte der „Griechischen Kulturgeschichte“, Kaegi, Bd.VII

[12] zitiert nach Rudolf Marx im Nachwort zur Griechischen Kulturgeschichte, Band III, Kröner-Ausgabe] S. 485f.

[13] Vgl. http://gutenberg.spiegel.de/buch/briefe-4973/19    Brief an Bernhard Kugler vom 30. März 1870, evtl. modifizierter Text.

[14] Vgl. das Nachwort von Rudolf Marx – hier im Buch.

[15] - am Besten auch die Einheitsmeinung – mit eigenen Worten natürlich!

[16] Schostakowitsch habe dies in der Stalin-Zeit gesagt, hieß es am 18. September 2017 im Kulturradio des rbb, genaueres konnte ich nicht in Erfahrung bringen.

[17] au contraire - im Gegenteil

[18] Jacob Burckhardt an Hermann Schauenburg, 22. März 1847  http://gutenberg.spiegel.de/buch/briefe-4973/9

[19] Hermann Hesse, Eigensinn, Frankfurt/Main 1972, 1. Aufl.

[20] Werke IX, 343f.(II, 348f DTV) [vgl. Kaegi, VII,22]   

[21] Jan Jiracek von Arnim, Franz Liszt, Visionär und Virtuose, eine Biographie, St. Pölten – Salzburg, 2011. S. 56

[22] Vgl. den zitierten Brief an Preen über Nietzsche in der Einf. zur Griech Kulturgeschichte von Kaegi hier im Buch. .

[23] Vgl. die hier zitierten Ausführungen über Sokrates III 349ff.  

[24] FAZ, 22. Juni 17, Heike Schmoll, Sprache und Bildung nach Humboldt,  interessant auch solche  Nebenbemerkungen von Frau Schmoll: Humboldt wußte von der Verwahrlosung der universitären Lehre, die vor allem darin bestand, aus alten Büchern überliefertes Wissen vorzulesen und Berufungen dadurch zu entscheiden, daß der junge Bewerber die noch unverheiratete Tochter des amtierenden Lehrstuhlinhabers heiratete. vgl. mein Tgb. S.113f

[25] http://gutenberg.spiegel.de/buch/briefe-4973/20

[26] Sum: ich bin, daher denke ich: ich denke, also bin ich. 

[27] Ich liebe mein Schicksal.

[28] Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, a.a.O. S.72, 92 (276).